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Das Lügennetz

*TW: Tod, Krankheit, Manipulation*

 

Was man sagt, und was man tut widerspricht sich das ein oder andere Mal...

 

In unserem Uni-Seminar hast du dich neben mich gesetzt. Du kamst zu spät, warst abgehetzt, du hättest die Bahn verpasst, rauntest du mir zu und erkundigtest dich bei mir, was wir bisher besprochen hatten. Nur ein paar Minuten und einem langen, geteiltem Lachen später gab ich dir meine Telefonnummer und bot an, dir die restlichen Aufzeichnungen des Seminars per Mail zukommen zu lassen. Wir verabredeten uns ein paar Tage später im Unicafé. Daraus wurde ein Bier, ein Abendessen und zwei Flaschen Wein. Du warst laut, einnehmend charmant, herzlich und wortgewandt und liest dich schnell für Ideen begeistern und was da ganz harmlos in einem Seminarraum für Linguistik begann, prägt mich bis heute. Es beeinflusst mich, wie ich fremden Menschen begegne. Wie ich ihnen und ihren Geschichten sehr genau zuhöre, mir versuche, möglichst viel über sie zu merken. Ich kann selten nur den Worten fremder Menschen Glauben schenken, denn du hast mich belogen- und das von Anfang an.

 

Im Nachhinein betrachtet, war es eine rasant sich entwickelnde, sehr enge Freundschaft. Aber dagegen ist ja zunächst nichts einzuwenden. Als es sich dann ergab, dass ein Zimmer in meiner geliebten WG frei wurde, bist du bei uns eingezogen. Ich wollte es so und wir wurden noch enger mit einander. Du warst jeden Tag da, stelltest viele Fragen, wolltest alles über mich, meine Schulfreunde und meine Familie wissen. Selten habe ich jemanden kennengelernt, der mit solch einer Empathie Trennungen und Krankheiten nachempfinden konnte. Was ich nicht wusste war, während du langsam immer mehr über mich herausfandest, bautest du vorsichtig um mich herum ein zartes Lügennest. Du zogst feine Fäden um mich, verknüpftest dich in den sozialen Medien mit all meinen Freund:innen. Du kanntest meine Ängste, meine Zweifel, wen ich liebte und wem ich misstraute. Was ich konnte, und was nicht. Du wusstest, warum meine Tante verstorben war, wie meine Ex-Freunde hießen, alles über die Trennung meiner Eltern, und sogar, wie die Partner:innen meiner Schulfreunde hießen, was sie arbeiteten oder studierten, wo sie lebten, wie viele Geschwister sie hatten.

 

Wer professionell lügt, der ist schlau.

 

Ich bin immer noch beeindruckt, wie viel Wissen zu einem guten Lügenkonstrukt eigentlich gehört und was du dir eigentlich alles merken musstest. Denn die selben Lügenfäden zogst du ja auch bei unseren Mitbewohnern, unseren Nachbar:innen und den anderen Kommiliton:innen. Jede Person ein Nest, ein wackliges Konstrukt, das du stets mit neuem Wissen, Gefallen oder kleinen Geschenken untermauertest. Du wusstest, wie du die Menschen an dich binden konntest und wer gerne gab, kam leichter in dein Netz. Du kanntest jeden Menschen mit all seinen Sorgen und Hoffnungen und du, du warst mittendrin. Ein Puppenspieler, der wusste, an welchem Faden er ziehen musste, um uns, um mich, in Bewegung zu bringen. Manipulation würde ich es heute nennen. Du liehst dir hier mal bei dem einen Mitbewohner 30€, dann dort beim nächsten 10€. Dem einen sagtest du, du müsstest Medikamente besorgen. Dem anderen, du bräuchtest dringend noch das eine Buch für die Vorlesung. Über die vielen Zalando- und H&M – Pakete habe ich mich erst viel später gewundert. Ein anderer Mitbewohner versorgte dich regelmäßig mit Lebensmitteln. Von mir nahmst du dir ab nun an einfach meine Klamotten, wie z.B. ein Paar neuen Schuhe, die du kaputt machtest, aber gar nicht ersetzten konntest. Ich versorgte dich zudem mit Material und Hausarbeiten für die Uni, nahm dich mit auf Partys und stellte dich all meinen anderen Freund:innen vor. Stets siegte dein Charme. Du kamst gut an, wurdest eingeladen und begannst eine Affäre hier und eine dort - und freute mich von Herzen für dich. Ich stellte nicht in Frage, dass ich mein Wissen, meine Milch und meine Sorgen mit jemandem, der mir nahe stand teile.

 

Soweit vielleicht so gut, doch dann stand mein Auslandssemester vor der Tür und ich nehme an, du hattest Angst mich dadurch zu verlieren und dein so sorgsam geknüpftes soziales Versorger-Gewebe könne zerreißen. Vielleicht warst du auch neidisch, vielleicht wolltest du mich nicht mit noch einer anderen WG oder neuen Freund:innen im Ausland teilen? Ich weiß es nicht.

 

Je näher die Abreise rückte, desto enger wurde das Netz um mich. Du wolltest genau wissen, wo ich wohnen werde und mit wem. Wann ich zu Besuch zwischendrin kommen würde. Dein Ton änderte sich. Nun, wann es ging, bautest du ein, dass es dir heute nicht so gut ginge. Du verbrachtest viel Zeit im Bett. Du gingst nicht mehr zu den Vorlesungen. Wenn wir kochten, kamst du nicht aus deinem Zimmer. Dann schriebst du mir plötzlich aus dem Krankenhaus, bliebst zwei Tage weg, ohne dich zu melden. Das war ungewöhnlich und ich war verunsichert.

 

Eine Woche vor meiner Abreise batest du mich zu einem Gespräch. Du wolltest es mir ja eigentlich nicht vor meiner Abreise sagen, aber du glaubst, wir würden uns so bald vermutlich nicht wiedersehen. Du hättest dich testen lassen in den letzten Tagen und ja, es klinge verrückt, aber du würdest sehr bald sterben. Es sei ein aggressive Speicheldrüsenkrebs. Genau der Krebs, an dem meine Tante ein paar Jahre zuvor verstorben war. Ich war wie erschlagen, konnte ich mich noch sehr gut an den leidvollen Sterbeweg meiner Tante und an die Trauerphase meines Vaters erinnern. Ich war sprachlos, sah deine Angst in den Augen, schluckte all meine Vorahnungen runter, tröstete dich und mich und versprach mich regelmäßig zu melden und dich natürlich zwischendrin auch besuchen zu kommen.

Gemeinsam fuhren wir dann nochmal zu meinen Eltern. Es war eigentlich wie immer; ein wunderschönes, lautes Wochenende. Alle meine Freund:innen  aus der Heimat nahmen dich herzlich auf und zum Abschied drückte dich mein Vater sehr lange, was er noch nie bei einem meiner Freund:innen zuvor getan hatte. Er drückte dich in dem Wissen, das dieser für seine Tochter wichtige Mensch bald nicht mehr leben würde. Er drückte dich, als wolle er seinen alten und meinen Kummer wegdrücken. Dieses Bild hat sich bei mir eingefressen. Wie mein alter Vater, gebeugt im Hausflur steht und dich drückt und mich dabei über deine Schulter mit glasigen Augen ansieht.

 

Und genau das, das kann ich dir bis heute nicht verzeihen, denn du warst gar nicht krank.

 

Auch während meines Auslandaufenthaltes brach der Kontakt nicht ab. Auch auf Distanz bemühtest du dich rege. Täglich suchtest du meine Nähe, riefst aus der Uni, dem Bus, aus der WG an. Nahm ich nicht ab, riefst du abermals an. Und reagierte ich nicht, folgte ein Foto aus dem Krankenhaus oder von dir, wie du im Bett lagst um dich von der Behandlung auszuruhen. Ich machte mir wahnsinnige Sorgen – natürlich. Manchmal, da weintest du am Telefon. Du sagtest mir, du wolltest gar nicht mehr leben. Du seist froh, wenn es endlich vorbei sei. Und wie froh du seist, dass du mich hättest. Was sagt man zu einem Herzensmenschen, der nicht mehr lange lebt? Ich hörte hauptsächlich zu und weinte nach unseren Telefonaten.

 

Ich verlängerte meinen Erasmus-Aufenthalt nicht, obwohl ich es gerne getan hätte, aber ich wollte die letzten gemeinsamen Wochen mit dir verbringen.

Nach einem knappen halben Jahr kam ich zurück und du, überglücklich, organisiertest eine Welcome-Back-Party. Wir heulten und lachten abwechselnd als wir uns wiedersahen und ich freute mich sehr über die Feier. Es kamen drei Mexikaner, die mit ihren Gitarren in unserem Wohnzimmer spielten. Es gab ein riesen Buffet und viel, sehr viel Tequila. Zudem hattest du alle meine alten Schulfreund:innen aus der Heimat eingeladen - und das war vielleicht dein Fehler gewesen.

Und vermutlich auch der Tequila.

 

Denn an diesem Abend, zur späten Stunde, und nach vielen Shots erzähltest du einer meiner ältesten Schulfreundinnen von deinem Leid, die dich versuchte zu trösten. Früh morgens saßen die Freundin und ich gemeinsam im Badezimmer und sie tröstete auch mich, denn ich war traurig, dass dies vielleicht die letzte gemeinsame Feier mit dir gewesen war.

Und dann sagte meine Freundin, das sei ja wirklich der Hammer, so jung und dann schon Magenkrebs. Ich stockte und korrigierte sie: „Nein, es ist Speicheldrüsenkrebs.“  Sie wiedersprach mir und war sich sehr sicher, du hättest ihr gesagt, du hättest etwas mit dem Magen. Das kam mir zum seltsam vor. Warum solltest du meiner Schulfreundin eine andere Diagnose erzählen als mir?

Nach diesem Abend wurde ich hellhöriger. Wenn du sagtest, du würdest in die Klinik fahren und dann aber bester Laune wieder nach Hause kamst, nahm ich es nun zur Kenntnis. Ich hatte ein Misstrauen entwickelt, sah nun plötzlich die Zalando-Kartons, die sich im Flur stapelten, reagierte nicht mehr sofort auf jede deiner Nachrichten und Bitten und bemerkte, wie du dich Stück für Stück weiter von mir entferntest. Ich beobachtete jeden deiner Schritte, war freundlich aber distanzierter. Du blühtest richtig auf in der Zeit, warst plötzlich unfassbar beliebt in dem Wohnheim, in mein Zuhause, in das ich dich habe einziehen lassen. Du hattest nun einen neuen Freund aus der WG über uns, vielleicht dadurch auch eine neue Geldquelle, mehr Zuspruch, mehr Empathie, das du aufsaugen konntest.

 

An einem Nachmittag traf ich mich für eine Gruppenarbeit mit einer anderen Kommilitonin von uns. Ich wusste, dass du mit ihr lange befreundet gewesen bist, aber dass du sie nun miedest. Ich nahm meinen Mut zusammen und sprach sie auf eure damalige Freundschaft und meine Bedenken an. Und da begann es zu bröckeln, das Lügenkonstrukt, dass du so sorgsam um mich herum gebaut hattest.

Sie erzählte mir, dass sie dich regelmäßig mit Hausarbeiten versorgt habe, sie dir Geld geliehen hätte und dann, ganz plötzlich, als sie ihren neuen Freund kennenlernte, da wurde deine Mutter sterbenskrank und du musstest oft in die Klinik fahren und dich um deine kleine Schwester kümmern. Du hättest viel am Telefon geweint, irre oft angerufen und irgendwann, ganz plötzlich, da brach schlagartig der Kontakt ab.  Du hattest mich kennengelernt.

 

Ich war wie erschlagen. Erzählte zuhause in meiner WG meinen Mitbewohnern davon, wollte sie warnen, doch niemand glaubte mir zunächst. Zu viele Netze, zu viele Lügenfäden waren gesponnen und gründlich gewebt worden. Alles klebte und triefte vor Falschheit. Ich hatte das Gefühl, alleine mit der Wahrheit zu sein und war doch immer noch gefangen, mitten in deinem Lügennetz. Ich war leer, ausgesaugt von deiner Energie und wurde still und klein und als sich die nächste Gelegenheit ergab, zog ich schlagartig aus- und brach den Kontakt ab.

 

Deine perfiden Lügen, sich mit Krankheit und Tod Zuneigung zu suchen, davon habe ich mich bis heute nicht ganz erholt. Ich habe irgendwo Mitleid mit dir und ich bin immer noch fassungslos über so ein Verhalten. Vielleicht kannst du dein Lügen nicht kontrollieren. Vielleicht hattest du eine artifizielle Störung[1]. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass du viel (emotionalen) Schaden nicht nur bei mir angerichtet hast, und vielleicht auch noch anrichten wirst. Dein Charme ist vielleicht unbesiegbar, aber meine Wahrheit wiegt schwerer als jede deine Lügen. 

 

[1] Absichtliches und wiederholtes Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen. Motivation oft unklar, vermutlich besteht das Ziel die Krankenrolle einzunehmen. Die Störung ist oft mit deutlichen Persönlichkeits- und Beziehungsstörungen kombiniert.  (Quelle: icd-code.de, Verhaltensstörung F68.1)

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