Charlotte Kunstmann
Lesestoff und Rezensionen
Herzlich willkommen auf meiner Lesestoff - Seite, wo ich meinen eigenen aktuellen Lesestoff und meine persönlichen Gedanken dazu vorstelle – alles natürlich auf freiwilliger Basis und ohne finanzielle Interessen!
Ich bin davon überzeugt, dass das, was man liest, einen starken Einfluss darauf hat, was man schreibt, und umgekehrt.
Eure Lesetipps sind mir immer willkommen, denn es gibt nichts Schöneres, als sich in neuen und spannenden Geschichten zu verlieren. Also, her damit!
Herzlichst,
Charlotte

Kalman und der schlafende Berg (Teil 2) von Joachim B. Schmidt.

„(…) ich war sehr stolz der Enkel eines Mannes zu sein, über den die Leute sprachen. Und ich bin es noch immer, ich brauche nur an Großvater zu denken, denn Stolz ist wie ein Döschen voll Gammelhai, das man in der Hosentasche mit sich trägt. Proviant für die Seele.“
Kalmann, der selbsternannte Sheriff aus Raufarhöfn und der wohl beste Grönlandhaifänger Nordislands hat einen neuen Fall. Was das mit dem Ableben seines Großvaters, Trump, den Kommunisten und der Amerikanischen Besatzung Islands zu tun hat…. well, so leset selbst in „Kalmann und der schlafende Berg“. Wer bei Nieselwetter und grauer Herbststimmung Feel-Good-Krimis mit charismatischen Protagonisten mag, wird auch den neuen Kalmann lieben.
Auch in diesem Jahr reiste der Roman von Joachim B. Schmidt mit mir nach Island. Wir besuchten an einem Tag sogar den Ort des Romans, hüpfen im Abendrot durch das Artic Henge, sahen einen ausgestopften Eisbären in einer leeren Bar und aßen heiße Fischsuppe im Hotel am Hafen in Raufarhöfn, während draußen über dem Vollmond die Nordlichter tanzten. Der Hotelier gab anschließend eine kleine Führung durchs (leere) Haus und zeigte mir (als interessierten Fotografin) zahlreiche alte Fotografien aus der Zeit, als in Nordisland noch der Handel mit dem Hering boomte. Erstaunlich viele junge Frauen waren auf den Aufnahmen im Hafen zu sehen. Seine Mutter sei eine besonders schnelle Hafenhilfskraft gewesen, erzählte er uns. Um die 20 Fässer habe sie mit Hering füllen können. Ich bin mir sicher, das hätte auch Kalli gefallen und er hätte kräftig mit angepackt.
Vaters Meer
von Deniz Utlu

*TW: Krankheit / Tod*
(…) „Mein Vater kam in die Küche, um mir gute Nacht zu sagen. Er stellte sich mir gegenüber und stützt sich an der Stuhllehne ab. Er sagte, dass ich lange weg bleiben würde. An den Abenden, manchmal bis spät in die Nacht, und dass ich aufpassen sollte, weil meine Freunde viel älter waren als ich. Sie sollten nicht Dinge mit mir tun , die ich nicht wollte. Das macht mich wütend, und ich sagte zu meinem Vater, dass er sich nicht in mein Leben einzumischen habe, dass er nie richtig für mich da gewesen sei und deshalb auch nichts zu melden habe. Ich sagte, dass es uns hier gut gegangen sei, bevor er gekommen war, dass es uns gut gehe, ohne ihn.
Ich sagte: Warum bist du nur gekommen? Es wäre schöner hier, wenn du gehen würdest.
In Ordnung, mein Sohn, sagte mein Vater, und er sagte: Gute Nacht, mein Sohn.
Er lief um den Küchentisch an mir vorbei ins Schlafzimmer.
In der Nacht verlor mein Vater die Sprache.“
Die letzten Worte, das allerletzte Gespräch, dass der junge Protagonist Yunus in dem Roman “Vaters Meer“ von Deniz Utlu mit seinem Vater führt, bevor dieser ins Wachkoma fällt, haben mich sehr berührt. Sie haben mich an die lange Zeit vergessen letzten Worte erinnert, die ich mit meinem Opa Conny teilte, bevor dieser „fiel“, wie Utlu es nennt. Und ich bin diesem Roman sehr dankbar dafür.
Mein belesener Großvater war ein Mann der klugen und vor allem der geflügelten Worte. Als Opa Conny in seiner Hochhauswohnung über dem Kölner Rhein fiel, da konnte er noch sprechen. Er rief selber den Krankenwagen, erkannte die Zeichen und verstummte dann auf der Fahrt in die Notaufnahme. Der Schlaganfall war der Klebstoff zwischen seinen Lippen. Zwischen seinem feinen Verstand und den Gliedern. Mein Opa war ein guter Segler gewesen, doch seine wochenlange Reise auf der Styx muss eine wahre Höllenfahrt gewesen sein.
An manchen Tagen war er ansprechbar, regierte auf Fragen, seine geliebte Jazzmusik verlangsamte seinen Herzschlag und die Pfleger:innen staunten.
Mein letztes „Gespräch“, das ich mit ihm führte war einseitig. Ich sprach und meine Tante hielt ihr Handy im Krankenhaus meinem Opa ans Ohr. Ich erzählte ihm alles Mögliche. Vielleicht sagte ich ihm, was ich an dem Tag erlebt hatte. Vielleicht wie das Wetter war, ich weiß es nicht mehr- und es tut mir unsagbar leid. Ich erzählte irgendwas, aber nicht was ich fühlte und ich habe es jahrelang als den fürchterlichsten Monolog meines Lebens abgespeichert, dessen Inhalt ich schlichtweg vergessen habe.
Dabei gab es sie, die letzten gemeinsam-geteilten Worte. Es war Spätsommer 2008, ich hatte das Abitur irgendwie geschafft, ich wusste nicht, was das neue Leben nach der Schule so für mich vorgesehen hatte, war unzufrieden, verliebt und niedergeschlagen zugleich, und Opa Conny war aus Köln zu Besuch. Es war der Sommer, in dem er mir einen neuen Namen gab, da ich meinen viele Jahre hasste. Er nannte mich nun Clara, die Helle, die Aufgeweckte. Es war der Sommer in dem er mir Schach in unserem Garten beibrachte. Jeder Zug ein Witz, ein Gedicht, eine Anekdote. Ich staunte und verlor jede Partie immer langsamer. An einem dieser Abende fragte ich ihn, woher er immer seine ganzen Sprüche und Zitate habe. Er sagte, dass habe er lange trainiert, denn es sei eine der besten Waffen. Wenn etwas schwierig oder unaussprechlich erscheint, sei ein gekonntes Zitat oft entwaffnend und ein guter Eisbrecher.
An unserem letzten gemeinsamen Abend schenkte er mir eine dicke Ausgabe von Büchmanns „Geflügelte Worte“. Darin lag eine Kopie seines Lieblingsgedichtes „Mondmacht“ von Joseph von Eichendorff. Ich schaute ihn fragend an. „Och, das ist nur so für den Fall, dass auch mir mal etwas Unaussprechliches passiert“, sagte er und tippte auf das dicke Sammelwerk von Büchmann. „Na und hiermit, da bin ich mir sicher, bist du für alle anderen Lebenslagen erstmal gewappnet.“
In meinem letzten Gespräch bevor mein Großvater fiel, wollte er mich stärken, mich auf die Kraft der Sprache hinweisen. Er schenkte mir die stärkste aller seiner Waffen. Er traute mir zu, dass ich irgendwann die richtigen Worte für schwierige Situationen finden würde. Er konnte nicht wissen, dass wir nie wieder miteinander sprechen würden, aber es hätten wohl keine schöneren letzten Worte geben können.
Auf See
von Theresia Enzensberger

Yada wächst unter der strengen Obhut ihres Vaters in Sicherheit auf der Seestatt, einer Art autarken Bohrinsel, mitten in der Ostsee, fernab von Chaos und Krieg auf dem Festland auf - so denkt sie zumindest. Ihr Tag ist klar mit Onlineunterricht, Sport-, und Psychotherapiestunden gegliederter. Ihr Vater führt den kleinen von ihm gegründeten Inselstaat mit harter Hand. Doch wie jeden Teenager möchte auch Yada natürlich gerne verstehen, woher sie eigentlich kommt und was damals mit ihrer Mutter geschah.
Ein verstörend realistisch-dystopischer Roman, angesiedelt nach einer Zeit, in der eine Flutkatastrophe den Berliner Tiergarten zerstörte, die Mittelschicht sich keine ärztliche Versorgung oder Wohnungen mehr leisten kann und in Autos schlafen muss. Was die Autorin gruselig real nur am Rande in ein Zukunftsszenario verpackt, lies mich schaudern. Zugleich bewegte mich die Familiengeschichte der mutigen Yada sehr, die sich aus der Utopie ihres Vaters löst und sich auf die Suche nach ihrer Mutter begibt.
Der längste, strahlendste Tag
Erzählsammlung von Benjamin Myers

"(…) Schließlich stand ich so dicht vor dem Gemälde, wie es möglich war, ganz vorne, und ehe ich wusste, wie mir geschah, war ich in ihm drin. Atmete seine stille Luft und spürte das Knirschen von verkrustetem Schnee unter den Füßen, den Puls meines Herzens in Schläfen und Handgelenken. Ich blickte hinaus auf die Landschaft, die Häuserdächer und die Brücke über die gefrorenen Teiche, wo die Leute aus dem Dorf -meinem Dorf- Schlittschuh liefen, und die Äste der Winterbäume knarrten, die dürren Zweige klapperten, ihr Saft gefroren, schwarze Krähen kreisten über mir und in der Ferne legte sich Nebel auf die gewaltigen felsigen Steinwände, die spitz aufragten, turmhohe Anklagen gegen den Himmel. (…) Ich war mitten drin, atmete die Tieflandluft, und meine Muskeln schmerzten von der nutzlosen Jagd nach nichts. Und es war alles so schön, so richtig. Es war alles zu viel. Die Wärme und das Gedränge [im Museum] und das Bedürfnis nach Wasser wurden übermächtig. Das war nicht gut. Nein. Das war überhaupt nicht gut. Mit je einem Fuß in beiden Zeiten, in beiden Welten, hatte ich das Gefühl, als würde ich von irgendwo tief in mir in Stücke gerissen. Ich war dort und hier, damals und jetzt, vergangen und gegenwärtig, heiß und kalt, durstig und hungrig, euphorisch und ängstlich, Erschöpft und beliebt, alles gleichzeitig."
(…) aus: „Wien (Die Jäger im Schnee)“
In Myers genialem Erzählband „Der längste, strahlendste Tag“ erahnt man als Leser:in oft schon zu Beginn, das sich da anschleichende Übel. Und doch kommt das Ende oft anders, als gedacht. Da klemmt ein Bauer in seinem Mähdrescher und erinnert sich an seine Kindheit, ein Autor leidet unter heftigen Panikattacken oder ein verdächtiges Kleid baumelt im Kleiderschrank eines ehemaligen Häftlings. Myers Erzählungen sind einmalig. Mir hat insbesondere die Geschichte zu dem gleichnahmingen Gemälde aus dem 16. Jahrhundert von P. Bruegel "Die Jäger im Schnee" stilistisch unfassbar gut gefallen.
Nordstadt
von Annika Büsing

! TW: In diesem Buch geht es um körperliche, psychische und sexuelle Gewalt!
(…) Boris erzählte ich davon, als wir das erste Mal miteinander schlafen wollten. Einfach so. Ich sagte: „Ich wurde vergewaltigt, als ich siebzehn war“. (…) Er sah mich an, mit seinen Puma-Augen, so ernst und bestürzt, dass mir klar wurde, dass es wirklich um mich ging. (…) Boris richtete sich auf, er betrachtete mich schweigend. Ich dachte, dass er mich nicht mehr mochte.
„Dass du es mir jetzt sagst, heißt entweder, dass wir das zu schnell gemacht haben, oder dass ich dir wehgetan hab. Hab ich dir wehgetan?“
„Nein.“
„Aber du hast Angst…“
„Ich habe keine Angst.“
Er ließ sich auf den Rücken fallen und sagte: „Nene, wenn jemand gegen meinen Willen in mich eingedrungen wäre, hätte ich immer Angst.“
Seine Worte wirken nach. Ich dachte darüber nach, ob ich Angst hatte. Und mir wurde klar, dass ich gar nicht mehr wusste, was das überhaupt ist: Angst.
Ich hatte ein Gefühl, dass in meiner Kindheit eine sehr große Übermacht gehabt hatte, einfach ausgelöscht. (…)
(…) Manchmal nehmen wir ein Gefühl und verwandeln es in ein anderes. Wir nehmen Trauer und verwandeln sie in Wut. Wir nehmen Angst und verwandeln sie in Wut. Wir nehmen Enttäuschung und verwandeln sie in Wut. Wir nehmen Liebe und verwandeln sie in Wut. Wut ist ein Allrounder. Man kann damit vieles kaputt machen, auslöschen, wegpusten, man kann sich regelrecht den Weg freisprengen und Boris spürte, dass ich wütend war. (…)
Nene ist Bademeisterin. Nene hat Schlimmes erlebt, aber eins hat sie früh gelernt: Wasser trägt dich, so schwer dein Trauma auch sein mag. Und sie will schwimmen, sie will ausgehen, sie will lachen und leben, denn Nene liebt Boris, der nicht richtig laufen kann. Danke Annika Büsing, für dieses unfassbar wichtige Buch! Für diese Geschichte über Mut und Traumata. Danke für den fies-ehrlichen Humor und diese herrlich-raue Ruhrpott-Romance. Eines der besten Debüts, die ich kenne! Wer vielleicht mag, wie ich schreibe, möge diese 123 Seiten bitte unbedingt einatmen.
Schlachtensee
von Helene Hegemann

Wir gingen zu ihr nach Hause. Ihre ehemalige Grundschullehrerin war zu Besuch. Ihre ehemalige Grundschullehrerin erzählte von ihrer Vergewaltigung. Ich erzählte von meiner Vergewaltigung. Maria erzählte von ihrem Stalker, einem Psychopathen aus der Pfalz, der ihr Klingelschild durchgestrichen und den Hausflur bis zu ihrer Wohnung im dritten Stock mit Muscheln dekoriert hatte, wobei dekoriert mir hier wirklich nicht das passende Wort zu sein schien. Zwei Wochen später sei er dann in ihre Wohnung eingebrochen und habe Bettwäsche mitgebracht. Das sei ein Dreivierteljahr so gegangen. Bis sie ihn eingestellt habe.
„Bitte was?,“ fragte ich.
„Der arbeitet jetzt für mich“, sagte
sie.
„Er arbeitet für dich?“
„Holt Sachen aus der Reinigung und macht Recherche. Solche Dinge.“
„Er macht Recherche?“
„Ja wenn mich irgendetwas interessiert“, antwortete sie und gähnte.
„Kannst du ein Beispiel nennen?“
„Bitcoins, 30-jähriger Krieg.“ Und nach kurzen Nachdenken fügte sie noch „Maria Stuart“ hinzu. (…)
Ermordete Pfauen, Oligarchen und Orgien, Schneelavinen und Sinnkrisen. Habe beim Lesen herzlich gelacht und gleichzeitig gegrübelt. Ein herrlich-absurdes, queeres, schnelles Gegenwarts-Buch mit 15 Kurzgeschichten. Love it! Bin jetzt großer Helene-Fan.